Nachdem ich mich im letzten Blogartikel bereits an fünf der am häufigsten genannten Vorurteile über die Pflege etwas abgearbeitet habe, gibt es heute Nachschub in Sachen Vorbehalte der Pflegewelt gegenüber. Weitere fünf Ressentiments warten darauf, widerlegt oder aber bestätigt zu werden. Seid gespannt auf die Vorurteile sechs bis zehn.
Vorurteil #6: In der Pflege muss man nur waschen und füttern!
An der Formulierung kann man bereits erkennen, dass dieses Vorurteil nicht von jemandem kommt, der in der Pflege arbeitet. Denn in der Pflege reichen wir Essen an. Wir füttern nicht. Gefüttert werden Kleinkinder oder Babys. Aber zurück zum eigentlichen Vorurteil.
Hier hoffe ich, tatsächlich, dass sich das nicht bewahrheitet. Das Motto: „Hauptsache satt und sauber“ galt vielleicht noch vor 25 Jahren, als es auch noch einen gewissen Befehlston auf den Stationen gab. Ich persönlich kenne das aber nur noch aus Erzählungen. Früher gab es auch sehr feste Zeiten. Um 8:00 Uhr mussten alle beim Frühstück und gewaschen sein. Um 9:00 Uhr mussten alle satt sein und die Medikamente genommen haben. Dazu feste Waschzeiten, Waschpläne, Duschpläne etc. Das war schon sehr militärisch.
Davon ist man aber schon lange weg. Wir sprechen heutzutage von einer individuellen Pflege. Das bedeutet, wenn ich einen Bewohner habe, der immer lang geschlafen hat und erst um 10:00 Uhr aufstehen und frühstücken möchte, dann darf der das auch.
Für mich (und hoffentlich ganz generell gilt), dass die Pflege ganzheitlich betrachtet wird. Das gilt vor allen Dingen auch für die Betreuung. Denn es bringt mir nichts, wenn der Mensch tipptopp sauber ist und gut gegessen hat, dafür den ganzen Tag nur auf seinem Zimmer hängt oder stundenlang ohne Beschäftigung in seinem Rollstuhl sitzt.
Während das Gerücht an und für sich nicht stimmt, bzw. in der Praxis auf die Pflege nicht zutrifft, kommt es immer mal wieder vor, dass die Angehörigen das verlangen. Wenn diese zum Beispiel um 10:00 Uhr zu Besuch in die Pflegeeinrichtung kommen und die Mutti liegt noch (auf eigenen Wunsch) noch im Bett, dann sieht man sich als Einrichtung schon mal mit Kritik konfrontiert. Während in der Pflege mittlerweile eine gewisse Individualität Einzug gehalten hat, scheint es bei Angehörigen nicht selten noch nach alten Mustern abzulaufen, die einem „satt und sauber“ eher entsprechen.
Vorurteil #7: In der Pflege gibt es keine Zukunftsperspektiven!
Ein immer wieder gehörtes Vorurteil, dessen Beantwortung sehr schnell geht: Es ist falsch. Sorry, aber es ist einfach falsch. Denn wer in seinem Leben eine Zukunft aufbauen oder Karriere machen möchte, ist in der Pflege absolut richtig. Es gibt nur wenige Bereiche, in denen man so gut emporklettern und sich eine berufliche Zukunft sicher kann wie in der Pflege.
Nehmt meinen Werdegang: Mit 21 war ich fertig mit meiner Ausbildung. Ein halbes Jahr später war ich Qualitätsmanager. Ein weiteres halbes Jahr später habe ich als Honorardozent gearbeitet. Danach habe ich meine Pflegedienstleiter-Ausbildung gemacht und danach die Heimleiter-Ausbildung. Dann habe ich mich selbstständig gemacht und neben auch im Krisenmanagement gearbeitet. Ich selbst kenne kaum eine Branche, in der man so gut und vor allem so schnell eine Zukunft aufbauen kann, wie in der Pflege – selbst wenn man sich nicht unbedingt selbstständig machen möchte.
Davon abgesehen funktioniert Pflege einfach noch sehr, sehr lange. Wir haben den demografischen Wandel und eine überalterte Gesellschaft. Pflege wird es immer geben, solange es Menschen gibt.
Natürlich wünsche ich mir, dass die Wohnformen noch mal ein bisschen angepasst werden und wir die Individualität der Bewohner noch mehr sehen. Ich wünsche mir außerdem, dass unser Gesundheitssystem ein bisschen revolutioniert wird, evaluiert wird und ein bisschen anders gestaltet wird.
Aber Zukunftsperspektive in der Pflege selber gibt es auf jeden Fall.
Vorurteil #8: In der Pflege bleibt keine Zeit für die Menschen!
Ich muss etwas überlegen. Aber ja, ich glaube, es stimmt teilweise tatsächlich. Man hat viel an Drumherum, das in der Pflege zu tun ist und das zeitlich intensiv ist, ohne dass Bewohner involviert sind. Es ist so ein trauriges Thema, das vor allem die Einrichtungsleitungen betrifft. Aber auch ein wenig die Praxiskräfte. Viele Regularien sind einzuhalten und es geht Zeit für die Organisation drauf. Zeit, die bei der Arbeit am Menschen letztlich ein bisschen fehlt.
Allerdings, und da dürfen wir uns in der Pflege alle mal den Spiegel vorhalten: Selbst wenn man die Zeit dann hat, nutzt man sie oft nicht so richtig. Ich erinnere mich daran, als ich mit der Ausbildung angefangen habe. Im ersten Lehrjahr war ich teils schockiert, was in der Praxis passierte. Natürlich hat man die Stoßzeiten, in denen alle gut zu tun haben und Arbeiten verrichtet werden müssen. Außerhalb dieser Zeiten gibt es aber auch Leerlauf, wo man Dinge erledigen kann. Und mich hat das in der Ausbildung so gewundert, dass während der Frühstückspause der Pflegekräfte gejammert wurde, es bliebe keine Zeit für die Bewohner. Und nachdem das Frühstück beendet war, wurde noch eine Kippe geraucht und ein Kaffee getrunken und dann wurde sich ins Dienstzimmer gesetzt. Ein bisschen Smalltalk hier, ein bisschen Handy daddeln dort – und schon ist mögliche wertvolle Zeit mit den Bewohnern verstrichen.
Täglich gibt es Zeiten, in denen ein gewisser Leerlauf zu erwarten ist. Und das sind Momente, in denen man sich seiner Motivation erinnern darf; dem Grund, warum man diesen Job macht. Zeiten, in denen man mit den Bewohnern sprechen oder etwas gemeinsam spielen kann. Vielleicht auch, um etwas spazieren zu gehen und für die Menschen da sein.
Ich persönlich mache es so, dass ich mich einmal im Jahr, oft zu Silvester, ganz bewusst hinsetze und mich reflektiere: Wer bin ich in meinem Job, wie bin ich ursprünglich gestartet, was möchte ich in meinem Job machen? Ich glaube, das ist ganz gut für uns Pflegekräfte. Sich auch mal kritisch zu hinterfragen und zu schauen, kümmere ich mich jetzt um die Menschen oder vergeude ich die Zeit mit „wichtigen Handygesprächen“?
Also, Vorurteil #8 stimmt in Teilen leider, was jedoch meist daran liegt, dass man sich die Zeit als Pflegekraft nicht nimmt.
Vorurteil #9: Pflege ist eine psychische und physische belastende Arbeit!
Ja, das kann man durchaus sagen.
Man arbeitet körperlich. Auf jeden Fall. Man läuft viel. Da können bei den einzelnen Schichten durchaus mal 20.000 Schritte zusammenkommen. Das ist natürlich einerseits ganz gut für die Fitness, aber es kommt ja noch weiteres hinzu. Alleine die Grundversorgung der Bewohner kann körperlich sehr anstrengend sein. Hat die Einrichtung nicht die entsprechenden Hilfsmittel und -geräte (Hebelifter, Aufstelllift oder passende Toilettenstühle) und hat man es mit adipösen oder spastischen Problemen bei den Bewohnern zu tun, ist die Arbeit physisch absolut anstrengend. Es gibt schon Tage, nach denen man denkt, der Rücken bricht einem durch.
Ist es auch psychisch belastend? Hierzu vielleicht eine kleine persönliche Geschichte: Es war der erste Tag meiner Ausbildung und ich reiche einer Bewohnerin eines Doppelzimmers das Essen. Und dann ist die Bewohnerin daneben genau in diesem Moment gestorben. Einfach eingeschlafen. Ich war völlig am Ende und überfordert. Dachte jetzt: atmet die noch? Kommt der Oberkörper noch nach oben und unten? Für mich war das völlig katastrophal dramatisch. Ich habe dann die Schichtleitung kontaktiert, war am Ende des Tages aber völlig fertig.
Mittlerweile stört es mich nicht mehr. Das ist einfach ein Teil unseres Jobs und man lernt mit der Zeit, das loszulassen. Im besten Falle komme ich in die Einrichtung und ziehe mir den Rucksack des Pflegers auf. Und wenn ich Nachmittags rausgehe, lasse ich den Rucksack im Spind und alles dort. Das ist allerdings noch mal etwas anderes, wenn man in der Palliativpflege arbeitet und dort vor allem Kinder betreut. Das komplett nach der Schicht dazulassen, wird nicht jeder und jedem gelingen.
Stimmt das Vorurteil also? Ich denke teils/teils. Pflege ist durchaus eine physisch belastende und in bestimmten Fällen auch psychisch belastende Arbeit.
Vorurteil #10: In der Pflege wird Arbeit am Menschen nach Zeittakt erfüllt!
Auch hier eine kurze Antwort direkt: Ja, so ist das.
Was soll ich sagen? Es ist tatsächlich so. Es gibt eine Zeitberechnung, die sich am Pflegegrad und der damit verbundenen Bezahlung ausrichtet. Zwar ist das in der stationären und ambulanten Pflege etwas unterschiedlich, aber letztlich wird die Arbeitszeit / werden die Touren nach Zeiten geplant. Ohne ist es auch gar nicht möglich, die ambulante Pflege zu organisieren. In der stationären Pflege hat man meist einen Pflegegrad-Mix aus drei und zwei. Dort plant man dann das Personal anhand der Bewohner-Anzahl und deren Pflegegrade ein. Letztlich ist Pflege zumindest AUCH ein wirtschaftlicher Faktor. Und man muss mit den Leistungen, die man bezahlt bekommt, auch alles refinanzieren können.
Das Planen nach Zeittakt bedeutet aber nicht, dass, wenn zwischendurch irgendetwas ist oder sein sollte, der Mensch dann nicht versorgt wird. Wenn du im ambulanten Bereich bist und hast jetzt wieder den Wundverband angelegt und der hält einfach nicht, dann lassen wir denjenigen nicht einfach liegen und sagen okay, dann hast du halt jetzt einfach mal Pech gehabt. Wenn es dann etwas länger dauert, bis das Ganze sitzt, dauert es eben länger.
Also das gleicht sich auch dann im Laufe der Tour meistens wieder irgendwie ein bisschen aus. Liebe Kollegen aus dem ambulanten Bereich, ihr kennt das genau, oder? Im Laufe des Tages gleicht sich das aber meist aus und bei anderen geht es dafür etwas schneller. Ein wenig wird hier auch das solidarische Prinzip angewendet.
Das Vorurteil zielt aber natürlich auch eher in die Richtung, dass man zu wenig Zeit hat für Bewohner und nur diese Zeit sich auch nehmen darf. Das scheint in den Köpfen der Allgemeinheit so drin zu sein. Aber wenn es bei einem Menschen mal länger dauert, das sage ich wirklich von ganzem Herzen, dann habe ich noch nie mitbekommen, dass irgendjemand gesagt hat, die Zeit ist abgelaufen, ist mir egal, ob da jetzt jemand verletzt auf dem Boden liegt. Natürlich wird dann versorgt und das darf auch mal etwas länger dauern.
Abschließend möchte ich sagen, dass diese Vorurteile spontan an mich herangetragen wurden und es wirklich interessant ist, welche Ressentiments gegenüber der Pflege in der Bevölkerung so unterwegs sind. Ich möchte aber noch mal aus tiefstem Herzen sagen, dass Pflege für mich persönlich und auch für sehr viele andere Menschen aus meinem Umfeld der schönste Job der Welt ist.
Ich hoffe, ich konnte euch ein paar Vorurteile nehmen oder euch Argumente dafür liefern, die ihr beim nächsten Mal anwenden könnt, wenn euch als Pflegekräfte ähnliche Vorurteile begegnen.
Bis zum nächsten Blogbeitrag,
euer Michael Pfister
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